1.FC Union Berlin - Borussia Mönchengladbach
Samstag, 23. November 2019
15:30 Uhr
Aufsteiger gegen Tabellenführer
oder
Elf Meter zum Glück
06. Februar 2001
Nur noch elf Meter. Zwischen diesem einen Fußball und dem Gehäuse auf der Waldseite sind es kurz nach 23:00 Uhr nur noch elf Meter - an jenem Abend sind diese elf Meter auf dem Platz genauso marode entstellt vom Schneefall der letzten Tage, wie das Stadion an der Alten Försterei. In der Zeit, als an großräumige Renovierungsarbeiten oder gar Ausbauten noch nicht zu denken war, genügte man sich mit den rostigen Stehplatzstangen, die von Stickern der letzten Jahrzehnte überklebt waren und das Unkraut, das auch im tiefsten Februar noch an seinen Wurzeln zwischen den Stufen zu erkennen war. Ob das Stadion an der Alten Försterei zu diesem Zeitpunkt überhaupt jemals bessere Tage gesehen hat, ist zu bezweifeln - umso besser war aber der Tag, der eine einmalige Geschichte des deutschen Fußballs und mit seinen Auswirkungen sogar des Weltfußballs schreiben sollte.
An diesem Dienstagabend war es längst nach 23 Uhr und die ARD musste ihr Spätabend-Programm genauso absagen, wie viele der Zuschauer, die wohl am morgigen Mittwoch nun doch spontan nicht zur Arbeit kommen konnten. Die eiserne Legende Ronny Nikol steht gespannt mit Schiedsrichter Helmut Fleischer vor der Waldseite und inspiziert noch einmal den von dunkelbraunen Grasresten überfallenen Elfmeterpunkt, der als solcher kaum noch zu erkennen und damit sich nicht mehr wirklich von den Spuren der vorherigen 120 Minuten auf Nikols Trikot unterscheiden ließ. Ein gewisser Hans Meyer verfolgte nervös den Anlauf und ahnte bereits, dass sein Torwart Uwe Kamps vermutlich die falsche Ecke auswählen würde. Die vier Sekunden, die Nikol bis zum Ausführen brauchte, fühlten sich wie eine Ewigkeit an: die Ewigkeit zwischen der Bedeutungslosigkeit in den Niederungen des Semi-Professionellen Fußballs in der Regionalliga Nord und die Ewigkeit mit einem einzigen Schuss nicht nur ein Tor zu schießen, sondern ein ganzes Tor in glorreiche Zeiten zu öffnen. Der Weg bis zu diesen 4 Sekunden war lang: nach dem Mauerfall musste sich der 1. FC Union Berlin mit der Drittklassigkeit begnügen und verzweifelte immer wieder an der eigenen Unprofessionalität, die einen Aufstieg in die Zweitklassigkeit finanziell (92/93 + 93/94) oder sportlich (zweimal Relegation 99/00) verhinderten. Die 90er Jahre hinterließen ihre Spuren, das Präsidium war zerstritten, die Schulden stiegen und nur die Fans konnten den Verein damals überhaupt am Leben erhalten. In dieser Saison 00/01 sah man sich endlich von Altlasten befreit und wagte mit dem neuen Trainer Wasiliew einen neuen Versuch, endlich den großen Sprung zu schaffen - doch auch dieses Vorhaben war eine Wette, die viele Risiken beherbergte. Als Union-Fan alter Tage ist man so etwas wie “Glück” gar nicht gewohnt und trotz jeglicher misslichen Lage, die einen oft zur Verzweiflung und zu Tränen brachten, war in diesen vier Sekunden am am 06. Februar 2001 alles anders. Ich nahm diese vier Sekunden im Wohnzimmer meiner Großeltern wahr und naiv, wie ich als 10-Jähriger damals so war, dachte ich mir, dass das alles schon klappen wird. Ich schaute mich um: der Großvater trank noch schnell einen Schnaps, die Großmutter konnte vor Anspannung nicht im selben Raum sein, der Vater senkte den Kopf zu einem Gebet in seinen Schoß, die Mutter kämpfte mit den Tränen. Noch bevor Ronny Nikol Anlauf nahm, wurde dann auch mir klar, dass dieser eine Schuss so viel mehr bedeutet als ein simples Weiterkommen - es war eine Art Dividende für all diejenigen, die mit und für Union in den Jahren und Jahrzehnten zuvor gelitten haben. Dieser eine Moment fasste alles zusammen, woran sie glaubten und wofür sie hofften. Das alles lag nun im Fuß von Ronny Nikol:
Nikol lief. Nikol guckte. Nikol schoss. Nikol traf.
Mein Großvater haute auf den Tisch, die Großmutter kam ungläubig ins Wohnzimmer zurück, der Vater versank vor Erleichterung noch weiter in seinem Schoß, die Mutter schrie eine Jubelarie aus. Und ich lächelte. Der 1. FC Union Berlin besiegte in einem wahren Kraftakt im Elfmeterschießen als Drittligist den späteren Aufsteiger in die Bundesliga Borussia Mönchengladbach im Halbfinale des DFB-Pokals. Die Geschichten rund um diesen Abend wurden in Köpenick zuhauf weitergegeben. Von den gehaltenen Elfmetern von Sven Beuckert, von Teixeiras Traumfreistoß, der in der Mitte Steffen Menzes Kopf fand. An jenem Halbfinal-Abend des DFB-Pokals wusste auch die ARD nicht so genau, was hier passiert und was das eigentlich bedeutet: Der Drittligist schlägt den ambitionierten Zweitligisten und ist im Finale des DFB-Pokals in Berlin. Weil der andere Finalist FC Schalke 04 aufgrund der Tabellenplatzierung für das internationale Geschäft schon qualifiziert war, konnte man kurz darauf auch in Berlin-Köpenick für Europa planen. Als Drittligist. Für Europa. Eine Geschichte, die es weder in Deutschland schon einmal so gab, noch auf der kontinentalen Ebene je wiederholt werden würde, dass ein Drittligist sich für den Europapokal qualifizieren konnte. Jener verwandelte Elfmeter sorgte für die erste goldene Zeit, als man als späterer Aufsteiger in die 2. Bundesliga und UEFA-Cup-Teilnehmer auf einmal die große Aufmerksamkeit der Medien, Sponsoren und Spielerberater erhielt. Doch der Grundstein für diese Geschichte war dieser Dienstagabend gegen Borussia Mönchengladbach. Ein Spiel, was womöglich die ganze Geschichte des 1. FC Union Berlins von Grund auf für immer verändert hat. Mehr als 18 Jahre später trifft man sich endlich auch in der Bundesliga an einem weiteren schicksalshaften Spieltag, der vielleicht auch an jenem Samstag wieder eine weitere Facette zu dieser Geschichte hinzufügen kann.
1.FC Union Berlin
Nach einer stabil ansteigenden Formkurve mit 3 Pflichtspielsiegen in Folge in die Länderspielpause zu gehen, klingt nur auf dem Papier äußerst “unglücklich” - in Wahrheit muss man trotz eines so breiten Kaders attestieren, dass sich durch diverse kleinere (Abdullahi, Becker) und größere Verletzungen (Gogia, Prömel) auch eine gewisse Kaderüberprüfung anbot, sodass das Testspiel gegen Holstein Kiel auch eine Bestandsaufnahme war, wer den gesperrten Andrich gegen Mönchengladbach ersetzen könnte: Kroos oder Schmiedebach? Ich schätze, dass Felix Kroos hier die Nase vorn haben wird, da er auch in der Saison zu mehr Kurzeinsätzen kam.
Mit inzwischen 13 Punkten aus elf Bundesligaspielen befindet man auf dem 11. Tabellenplatz und damit 4 Punkte vor einem Relegations- und sogar 6 Punkte vor einem direkten Abstiegsplatz und hat nach dem Gladbach-Spiel vor allem die Mitkonkurrenten im Abstiegskampf vor der Brust, sodass man hier leicht optimistisch hoffen kann, die Punkteausbeute bis zum Ende der Hinrunde noch zu erhöhen. Ungeachtet dessen kann man der Handschrift von Urs Fischer bei einem Erstligakader durchaus eine gewisse destruktive Attraktivität attestieren, die vor allem auf Konzentration und Konstanz aufgebaut ist und vor allem über eine stabile Defensivarbeit definiert sein soll, die sich in den letzten 5 Spielen bemerkbar machte und somit auch nicht ganz so sehr überrascht, dass man in einer inoffiziellen Formtabelle der letzten 5 Spiele auf dem 3. Tabellenplatz liegt. Natürlich sind solche Statistiken nur interessantes Beiwerk, um mehr über die Spielkultur zu erfahren - eine Prognose über das Ergebnis zum Wochenende stellen sie dabei nicht unbedingt dar. Am Samstag wird das Team um die am Wochenende aktiven Nationalspieler Andersson (mit Tor gegen die Färöer) und Trimmel (in der Schlussphase gegen Mazedonien eingewechselt) auch wieder versuchen, ihr Umschaltspiel mit einem konzentrierten Gegenpressing zu verbinden um Gegner entweder direkt früh beim Spielaufbau zu stören oder sie mit einer geordneten Defensivreihe zwischen 16er und Mittellinie abzufangen versuchen. Nach dem Versuch der Doppelspitze, die nicht unerfolgreich war, dürfte es wieder interessant sein, wie sich die Formation auf das Gladbach-Spiel einstellt. Ich schätze auf ein bewährtes 3-4-3 mit den zwei Außenspielern als Wingern:
Gikiewicz - Friedrich, Schlotterbeck, Subotic - Trimmel, Kroos, Gentner, Bülter - Ingvartsen, Andersson, Mees
Borussia Mönchengladbach
Nach einem holprigen Saisonstart, der unter anderem ein 0:4 gegen den Wolfsberger AC und ein 1:3 gegen RB Leipzig sah, kam die Borussia wieder in die Spur und konnte mit ihrem neuen Coach Marco Rose stetig mehr Akzente setzen: ein 2:1 gegen die AS Rom, ein 4:2 gegen Eintracht Frankfurt oder ein 2:1 in Leverkusen sind durchaus Beleg für eine durchaus interessante Spielweise, die sie nicht umsonst auch zum aktuellen Tabellenführer der Bundesliga macht. Diese Entwicklung ist natürlich nicht nur der kurzfristige Fortschritt durch Rose, sondern vor allem auch durch ein einzigartiges Teammanagement unter Federführung von Max Eberl, der aus Gladbach innerhalb der letzten 10 Jahre ein Team mit internationalen Ansprüchen formte und dabei stets auch die nachhaltige Entwicklung im Kopf hat. Dieses Konzept, das auch überraschende Transfers beinhaltet, geht von Saison zu Saison in meinen Augen mehr auf und macht aus Borussia Mönchengladbach einen sehr sympathischen Verein mit viel Weitsicht, Disziplin und Ehrgeiz. Aber trotz einer guten Kaderplanung kann man sich auch bei der Borussia nicht vor den üblen Folgen von Verletzungen schützen und so werden am Wochenende in Köpenick auch einige namhafte Spieler vermisst (Bénes noch mit Prellung, Kramer und Embolo fallen aus) oder sind gesperrt (Bensebaini), sodass Rose in seinem 4-3-3 an einigen Positionen umplanen muss, was aber keineswegs die Qualität des breiten Kaders schmälern wird:
Sommer - Wendt, Elvedi, Ginter, Lainer - Strobl, Zakaria, Neuhaus - Thuram, Plea, Herrmann
Das Spiel
Wenn der Tabellenführer zum Aufsteiger kommt, dürfte es eine einseitige Angelegenheit sein, aber die Vergangenheit hat uns gelehrt, dass wir zuhause gegen Borussia Mönchengladbach durchaus für Überraschungen gut sind und über uns hinauswachsen können: Am Stadion an der Alten Försterei mussten sich diese Saison bereits Borussia Dortmund, SC Freiburg und Hertha BSC die Zähne ausbeißen und ohne Punkte nach Hause fahren, Trainer Urs Fischer wird seine Mannschaft wieder mit den zielführenden Instrumenten ausgestattet haben, die auch am Samstag vielleicht für die ein oder andere Szene durchaus eine Überraschung parat haben könnten, um gegen die favorisierte Borussia aus Mönchengladbach so weit es geht auf Augenhöhe mithalten zu können. Unabhängig vom Ergebnis bin ich überzeugt, dass das Team gerade Zuhause und mit dieser anhaltenden Form etwas Selbstvertrauen und Motivation getankt hat, sich im Spiel nicht kampflos zu ergeben um uns wieder die eisernen Werte auf den Platz zu zeigen. Ich erwarte wieder einmal ein intensives Spiel, dass von Unioner Seite durch Zweikämpfe und auf Gladbacher Seite von technischer Finesse geprägt sein wird. Mit etwas Glück gelingt uns aber auch an diesem Wochenende ein goldener Schuss - wie einst bei Ronny Nikol gegen Uwe Kamps.
Tipp:
1. FC Union Berlin - Borussia Mönchengladbach 1:1
Эта статья в последний раз редактировалась Eiserner-Wolf 19 нояб. 2019 г. на 14:51 Часов